Das ADHS-Syndrom ist durch eine lebenslange dynamische Regulationsstörung und hierdurch bestimmte Entwicklungsbesonderheiten gekennzeichnet. Dabei bestimmt eine neurobiologische Prädisposition (=Veranlagung) im Zusammenwirken mit Erziehungs- und Sozialisationsbedingungen und Lernerfahrungen die Ausprägung der Symptomatik. Neurobiologische Erklärungsmodelle der ADHS beschreiben Funktionsabweichungen in der Regulation und Verfügbarkeit von Botenstoffen (z.B. Dopamin und Noradrenalin) und deren Transportern und Rezeptoren im Gehirn. Dabei sind wesentliche (höhere) Handlungsfunktionen (Exekutivfunktionen), die für die Alltagsbewältigung und -Planung erforderlich sind, beeinträchtigt. Hierzu gehören u.a. Reizfilterung und -verarbeitung, Daueraufmerksamkeit, Handlungsplanung und Organisation, Arbeitsgedächtnis, Vigilanzsteuerung sowie Regulation von Gefühlen und Impulskontrolle.
Aufgrund der hohen genetischen Bedingtheit des ADHS sind häufig (aber nicht immer) ein oder beide Elternteile ebenfalls Merkmalsträger; nicht selten lässt sich dies über mehrere Generationen zurückverfolgen. Dies prägt bereits frühkindliche Beziehungserfahrungen und Bindungsstrukturen. Dabei reagieren Kleinkinder mit ADHS-Veranlagung häufiger ungewöhnlich auf Berührung und Nähe, sind schwieriger zu beruhigen (»Schreibaby«) oder reagieren beim Stillen und Füttern auffälliger und weisen gelegentlich erhebliche Entwicklungsverzögerungen und zusätzliche Wahrnehmungs- und Motorikprobleme auf. Diese Auffälligkeiten der frühkindlichen Entwicklung können auftreten – sind aber weder beweisend noch zwingend vorhanden.
Ein Individuum reguliert (vereinfacht) seine Anpassung an sein soziales Lebensumfeld dadurch, dass es den Erfolg und die Wirkung seines Verhaltens und den Fortschritt seiner Fähigkeiten ständig anhand der eigenen Wahrnehmung überprüft und anpasst, so dass ein fortlaufend rückgekoppelter Entwicklungs- und Lernprozess stattfindet. ADHS-Kinder erleben in verstärktem Maß eine Instabilität in ihrem eigenen Erleben, leiden vermehrt unter sozialen und emotionalen Entwicklungsstörungen, gestörten Wahrnehmungsfunktionen und wachsen häufig in einem entsprechend instabilen Umfeld mit selber betroffenen ADHSElternteilen auf. Es muss ihnen so ungleich schwerer fallen eine verlässliche Bindung zu Bezugspersonen aufzubauen oder höhere Lernprozesse (z.B. Lernen am Modell oder auch sprachlich vermittelte Regeln und Rollenerwartungen, etc) situationsadäquat anzuwenden. Häufig ist eine chronische Fehlanpassung die Regel, so dass eher ein Lernen über Versuch und Irrtum oder aber eine dysfunktionale Anpassung an äußere R llenmodelle erfolgt bzw. es zu Fehlverhalten mit aggressivem oder oppositionellem Verhalten kommt. Es gelingt den Kindern so nicht in einem sicheren Bezugssystem stabile Ressourcen zur Alltagsbewältigung und selbstbestimmten Handlungssteuerung zu erwerben.
Fehlen oder verändern sich wichtige günstige (protektive) Faktoren, wie strukturiertes und stabiles familiäres Umfeld, stabiler Freundesreis, Förderung individueller Interessen und Herausforderungen, günstige Lehrer-Kind-Interaktion, so kann die Persönlichkeitsentwicklung des ADHS-Kindes damit zusätzlich nachhaltig gestört werden. Für viele Menschen mit ADHS sind insbesondere negative Lernerfahrungen (bei häufig gleichzeitig bestehenden Lern- und Teilleistungsstörungen) und negative Rückmeldungen der Familie und des sozialen Umfeldes mit ständiger Ermahnung hemmend in der Entwicklung einer eigenen Identität. Nicht Anerkennung und Erfolge, sondern wiederholte Misserfolge in der Bewältigung scheinbar trivialer Alltagsanforderungen kennzeichnen häufig ihre Entwicklung und tragen zu einer negativen Selbststeuerung und fehlender Selbstwirksamkeitserwartung bei.
Hohe Reizoffenheit und emotionale Empfindsamkeit führen gerade in Gruppensituationen zu einem Überforderungsgefühl, sozialem Rückzugsverhalten und häufig zu sekundären sozialen Ängsten.
Häufig besteht dabei zusätzlich eine Intoleranz für Langeweile oder Situationen ohne Anreizcharakter. Dies erleben ADHS-Patienten entweder als starke innere Unruhe, Stimmungseinbruch oder aber als Drang durch impulsive Handlungen oder Bewegung eine Änderung des Zustandes herbeizuführen – notfalls auch durch Provokation oder selbstschädigende Verhaltensweisen. Sie werden leicht unruhig, zappelig, unkonzentriert, sind innerlich und äußerlich ständig auf dem Sprung, suchen den »Kick«, das Interessante, das Spannungsgeladene oder den Streit. Indem diese Menschen sich in diese für sie anregenden Situationen begeben und sich mental (z.B. Geschwisterrivalität, Eifersucht, Streit) bzw. physisch (z.B. exzessiver Sport, Drogen, autoaggressives Verhalten) stimulieren, bewirken sie, dass durch diese Außenstimulation eine neuronale Aktivierung des Gehirns erfolgt und damit der für sie stark belastende innerliche Druck- bzw. Unruhezustand zumindest kurzzeitig beendet wird. Solch expansives (störendes) Verhalten vers ärkt naturgemäß ungünstige Umfeldbedingungen und soziale Ausgrenzung oder macht zumindest erhebliche Integrationsprobleme, so dass z.B. bei Kindern zusätzliche soziale Lerndefizite die Regel sind.
Impulsives Verhalten und Wutausbrüche (mangelhafte Impulskontrolle) bei hoher Reizbarkeit und instabiler Emotionsregulation (z.B. intermittierende Dysphorie) fallen für Außenstehende häufig durch kurzzeitige 1-5 Tage anhaltende depressive Verstimmungen auf, die im Gegensatz zur klassischen Depression oder dysthymen Störungen durch rasche Stimmungsaufhellungen bei herausfordernden Aktivitäten gekennzeichnet sind. Die fehlende Überzeugung – und auch real fehlende Kompetenzen – durch eigene Anstrengung eine positive und stabile Änderung der Problematik herbeiführen zu können, führt zu schweren Selbstwertproblemen und Selbstabwertungen. Die Patienten erleben sich selbst als »anders«, »faul« oder »dumm« und fallen durch zunehmende Resignation und Rückzugsverhalten, u.a. in der Schule oder Ausbildung auf oder nehmen eine Außenseiterrolle als Nonkonformist ein.
Typisch für Problemsituationen ist es dabei, dass einerseits eine sehr hohe Sensitivität für Konflikt- und Spannungssituationen besteht, andererseits aber nur eine geringe Stressempfindlichkeit. Die Umstellung auf neue Situationen ist für diese Patienten erschwert und löst häufig dysfunktionale (weil extreme) Verhaltensmuster aus. So versuchen sie zwar pseudokompetent für sich eine Lösung zu entwickeln, indem sie sich in eine Aufgabe impulsiv hineinstürzen oder aber die erste beste Lösung als »einzig richtige« Wahl sehen. Im nächsten Moment werden dann aber wiederum verschiedene Sichtweisen und Wahlmöglichkeiten ohne sinnvolle Prioritätensetzung und situationsangemessene Abwägung parallel verfolgt und so keine Aufgabe wirklich abgeschlossen, da sie den eigenen subjektiven Ansprüchen an »innere Stimmigkeit« noch nicht entspricht. Erst in buchstäblich letzter Sekunde werden dann Entscheidungen tatsächlich getroffen und ausgeführt.
Typisch für die Berichte von Erwachsenen mit ADHS ist aber auch, dass sie lange Zeit über Kompensationsstrategien, wie Perfektionismus, häufigen Arbeitsplatzwechsel oder aber unterstützende Partner scheinbar unauffällig zu Recht kommen. Vielfach gelten sie an ihrem Arbeitsplatz aufgrund hohen Einsatzwillens und kreativer Lösungsideen als sehr kompetent, fallen aber durch nicht abgeschlossene Projekte oder inkonstante Arbeitsleistungen gerade bei Routineanforderungen auf.
Andere ADHS-Patienten nehmen im Berufsleben Führungspositionen ein. Ihr schneller Denkstil und ihre Fähigkeiten zu instinktiven Entscheidungen sowie ihre Kreativität befähigen sie zu schnellen Einschätzungen von Situationen, wie sie auch bei anregenden Aufgaben eine überdurchschnittliche Leistungsfähigkeit zeigen. So finden sich beispielsweise überhäufig Menschen mit einer ADHS Veranlagung auf höheren Managementpositionen, in der Kunst- und Werbebranche, im Wissenschaftsbereich, bei Börsenmaklern, in Notfalldiensten etc. Diese Karrieren verlaufen meist solange ungestört wie diese Betroffenen durch einen Partner/in, Sekretär/in oder Untergebende von lästiger Alltagsroutine befreit sind. Bricht dieses Unterstützungssystem zusammen, kommt es meist zu erheblichen beruflichen Problemen. Unabhängig davon bestehen nicht selten erhebliche interaktionelle Konflikte durch überemotionalisiertes und impulsives Auftreten und einen unzureichenden Kommunikationsstil, sowie der zumindest partielle Unfähigkeit sich dur h einen Perspektivwechsel in das Erleben des Gegenübers hineinzuversetzen.