Verhalten

Essstörungen und essgestörtes Verhalten

Essgestörte Verhaltensweisen sind in unserer Gesellschaft weit verbreitet und scheinen zuzunehmen. Subklinische Essstörungen (gezügeltes Essen, Diät halten, Mahlzeiten auslassen, überzogene Vorstellung zur Traumfigur, eine gestörte Körperwahrnehmung und allgemein die Dysfunktionalität von Essen) sollen nach Untersuchungen an Schülern und Studenten in knapp einem Drittel der Bevölkerung vorkommen mit zum Teil erheblichem Leistungsdruck.

Die URSACHEN sind vielfältig. Beizutragen scheint der permanente Nahrungsüberfluss in unserer westlichen Gesellschaft mit einer Fülle jederzeit erreichbarer hochkalorischer und sofort verzehrbarer Nahrungsmittel, die dazu noch billiger sind als Vollwertiges, inklusive  Gemüse und Obst und in Übergrößen angeboten werden.

Auf der einen Seite stürmen Starköche die Bücherhitlisten und Fernsehkochshows nehmen an Beliebtheit zu, auf der anderen Seite geht persönliches Wissen um Essen und Ernährung sowie ganz allgemein Esskultur verloren und gleichzeitig nimmt der Druck sich richtig, gesund oder stilvoll zu ernähren zu. Die Mehrheit der Erwachsenen ist immer weniger in der Lage ihren Kindern diesbezüglich Sicherheit zu vermitteln. Sowohl auf dem Gebiet der angemessenen Ernährung als auch der Bewegung sind Erwachsene immer weniger Vorbilder und Lehrer für ihre Kinder. Mit der Familie eingenommene Mahlzeiten, während derer Wichtiges vom Tag besprochen wird – vor allem relevant aus Sicht des Kindes – lassen sich immer seltener einrichten; Mütter sind häufig notwendige Mitverdiener für das Familieneinkommen und stehen für eine aufwendigere Haushaltsführung mit im wesentlichen selbst zubereiteten Mahlzeiten nur noch eingeschränkt zur Verfügung.

Die Übersicht über das, was wir den Tag über konsumieren, ist ohne geregelte Mahlzeiten schwierig zu behalten, wodurch ein entscheidender Anteil an Lebensqualität verloren gehen kann. Essen genießen, auch in der Gesellschaft anderer, ist eine wichtige Ressource für Lebensfreude. Mit fortschreitender Technisierung und Vereinfachung von Abläufen unseres täglichen Lebens – über die Rolltreppe bis zur Fernbedienung und zum Handy mit Einkaufen oder Bankgeschäfte via Internet – erfasst uns alle ein zunehmender Bewegungsmangel mit der Folge, dass ein Großteil der Bevölkerung immer dicker und damit zu einem schlechten Vorbild und zu einer Verunsicherung für unsere Kinder wird, die auf der anderen Seite konfrontiert sind mit dünnen oder muskulösen Idealen.

In unserer Gesellschaft hat sich ein Schlankheits-, Körper- und Fitnessideal bei Frauen und Männern gegenläufig zur Realität entwickelt:

  • Überbetont schlanke und perfekte Frauenkörper in einer Gesellschaft mit Überernährung
  • muskulöse Männerkörper in einer Gesellschaft mit wenig Bewegung und mangelnder körperlicher Anstrengung

Zudem verbreitet sich ein Klima der Betonung von Selbstkontrolle im Umgang mit Figur und Aussehen, so als ob alles machbar wäre, wenn man sich nur genügend anstrengt –  unter Vernachlässigkeit anlagebedingter und deshalb nicht ohne weiteres beeinflussbarer Faktoren. So kämpfen viele darum, ihr Gewicht in „ideale“ Bereiche, entsprechend dem unteren Normalgewichts- oder dem Untergewichtsbereich, zu reduzieren. Bestärkt werden sie darin von einem Gesellschaftsbild, das Schlanksein und Gewichtsreduktion mit stark sein, schön sein, attraktiv sein und erfolgreich sein, ja sogar intelligent sein, gleichsetzt.

Ein BMI < 18,5 wird von der Weltgesundheitsorganisation in westlichen Ländern als Unterernährung definiert, Models haben typischerweise BMI-Werte darunter. Anlagebedingt hat nur ein geringer Prozentsatz von Mädchen und Frauen einen BMI um 18,5, was im gesunden Fall begleitet ist von einer normalen Menstruation (ohne Einsatz der Pille), einer normalen ovariellen Funktion (Eisprung) und normalem Essverhalten (ohne intensive Sorgenprozesse zum Thema Essen, Gewicht, Figur und Bewegung); diese Mädchen, Frauen und Männer können Essen genießen und reagieren nicht auf emotionale Probleme mit Störungen im Essverhalten.

Übergewicht oder die frühe Entwicklung, besonders deutlich sichtbarer weiblicher Körperformen gelten – neben abwertenden Bemerkungen über das Aussehen und im Speziellen den Körper, aber auch zu vielen allgemeinen Körperbewertungen – als Risikofaktor für die Entwicklung einer vor allem bulimischen Essstörung. Perfektionismus gilt als hervorstechendes Persönlichkeitsmerkmal und Risikofaktor bei den Anorexien.

Bei Jungen geht die normale Entwicklung ab der Pubertät, die ein bis zwei Jahre später eintritt als bei Mädchen, in Richtung Muskelaufbau und entspricht so typischerweise dem, was in unserer Gesellschaft gewünscht wird. Das Problem bei Jungen und Männern ist jedoch ähnlich gelagert wie bei Mädchen und Frauen. Nicht jeder kann – auch nicht mit noch so viel Training – den idealen, muskulösen Körper mit „Sixpacks“ entwickeln, da dabei die genetische Veranlagung eine Rolle spielt. Manches ist auf gesundem Wege einfach nicht machbar.

Essgestörtes Verhalten hat mit einer Essstörung als Erkrankung nur an der Oberfläche einiges gemeinsam: es sind die sichtbaren Symptome und die überkritische Einstellung dem eignen Körper gegenüber – wenn auch meist in abgemilderter Form. Es liegt dem aber keine (schwere) seelische Störung zugrunde, jedoch gibt es fließende Übergänge.

Vor allem das anorektische Verhalten kann auf der psychologischen Ebene als ein schweres Missverständnis verstanden werden: Die Betroffenen versuchen am Körper etwas zu verändern, was aber so nicht verändert werden kann, da es darum nicht geht. Der „Lösungsversuch Essstörung“ bringt das zugrunde liegende Problem in indirekter Form zum Ausdruck und macht es sichtbar, es bedarf also einer Entschlüsselung, womit sich die Familienangehörigen typischerweise sehr schwer tun. Die Essstörung bietet einen „pathologischen Halt“, die Betroffene muss ihr seelisches Leiden erst einmal weniger spüren (im Sinne von Vermeidung), bleibt auf diesem Weg jedoch allein mit zudem schlechter werdenden Beziehungen zu anderen. Es ändert sich auch nichts am Grundproblem, auch wenn der Körper sich verändert: es kommen neue Probleme dazu, wie die körperlichen und seelischen Folgen des Hungerns, des Erbrechens und des übertriebenen bis selbst schädigenden Sporttreibens.