Behandlung

Behandlung von Essstörungen

Essstörungserkrankungen sind psychosomatische Erkrankungen komplexer Natur, die in ihrem chronischen Verlauf unweigerlich zu körperlichen und seelischen Folgen führen. Da es sich um vielschichtige Krankheitsbilder handelt, braucht es auch zur Behandlung vielschichtige, d.h. mehrdimensionale und ineinander greifende, auf das Spezifische eingehende Therapieprogramme. Da die Krankheitsbilder zur Chronifizierung neigen, sind Langzeittherapiekonzepte notwendig. Es kann hilfreich sein, wenn die Behandler die gleichen bleiben, sofern die Behandlung erfolgreich verläuft. Außerdem sind vernetzte Behandlungsstrukturen zum Erleichtern der Übergänge zwischen verschiedenen Behandlungsformen erforderlich.

Wir bieten dazu in der Klinik Lüneburger Heide für den stationären Therapieteil ein seit Jahren bewährtes mehrgleisiges Therapieprogramm an:

 

 

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Den ersten Baustein des Therapieprogramms bilden das Medizinische Monitoring und die medizinische Behandlung und Überwachung während der Wiederernährung und Symptomaufgabe. Eingeschlossen ist zu Beginn eine medizinische Bestandsaufnahme hinsichtlich der relevanten Folgen von Essstörungen. Verlegungen in akut- und intensivmedizinische Abteilungen sind so nur in sehr seltenen Fällen und bei speziellen Problemstellungen notwendig, die eine intensivmedizinische oder anderweitig spezifische Behandlung erfordern. So kann in den allermeisten Fällen der nicht aufschiebbare essstörungsspezifische Therapieprozess im Vordergrund bleiben und sofort beginnen.

Der zweite Therapiebaustein ist die Ess-Psycho-Therapie, die es ermöglicht ohne Magensonden– oder Infusionsernährung auch Patientinnen/Patienten  mit schwersten Anorexien zu behandeln (wir haben kein Mindestaufnahmegewicht und deshalb einen medizinisch-pflegerisch-cotherapeutischen Überwachungsbereich) und fördern eine Gewichtszunahme von 500 – 1000 (auch bis 1500) g pro Woche. Die angemessene Wiederernährung steht dabei nicht nur für die Betroffenen, sondern für das gesamte therapeutische Personal im Vordergrund und wird vom geschulten Personal (Ernährungsfachkräfte und Ernährungsmediziner) verantwortet. Es geht dabei um das W(iedereinführen eines normalen Essverhaltens mit einer der Zunahme zuträglichen Essmenge, wobei alle Patientinnen/Patienten mit einem BMI < 12 und mit bestimmten Gefahrenindikationen anfangs in den medizinischen Überwachungsbereich aufgenommen werden.

 

Damit Essen nicht weiter (auch unbewusst) dazu missbraucht wird, seelische Konflikte (vermeintlich) darüber lösen zu wollen.

Sir William Gull, einer der Erstbeschreiber der Anorexia nervosa hat es so formuliert, dass man zur Wiederernährung von Anorexien Menschen braucht, die die Patientinnen/Patienten „moralisch unter Kontrolle haben“. Übersetzt werden kann das dahingehend, dass es eine therapeutische Umgebung („ein antianorektisches Klima“) braucht, um das vorher abgesprochene, berechnete Essen auch im Sinne von 100% Aufessen durchzusetzen. Dies geschieht durch die gemeinsame Essplanerstellung mit gleichzeitiger Orientierung am Beziehungsaufbau und damit einer unbelasteten und v.a. nicht vorwurfsvollen Kommunikation. Innerhalb dieser können Missverständnisse, die den Körper, seine Funktionen und die Ernährung betreffen und insgesamt die vielen intensiven Sorgenprozesse fortlaufend offengelegt und abgemildert werden. Wir setzen dazu konkret eine Essplan gestützte Wiederernährung (Makronährstoff im Sinne von Kalorien- Fett- und Eiweiß definiert) ein in der Betreuten Esssituation (anfänglicher Tellerservice und direkte Betreuung aller Mahlzeiten) durch Ernährungsfachkräfte. Die Portionierung ist verlässlich und wird zuvor gemeinsam abgesprochen, jede Patientin/jeder Patient erhält seinen Essplan ausgehändigt. Die Verantwortung für die richtige Portionierung und Zusammensetzung des Essens liegt beim Personal, bei der Essensauswahl können Patientinnen und Patienten nach persönlichen Vorlieben mitentscheiden.

Täglich nach dem Mittagessen, auch Samstag und Sonntag, trifft sich eine symptombezogen arbeitende sog. Mittags- oder Essstörungsgruppe  (nach Anorexie und Bulimie getrennt), in der alle Themen besprochen werden, die das Essen und den Gewichtsverlauf, das Trinken, die Bewegung und die damit verbundenen Fehlüberzeugungen betreffen. Zudem werden Symptomdruckanalysen möglichst zeitnah durchgeführt, um im Kontakt Gegenregulationen zu vermeiden. Ein sog. „Löffeltraining“ hilft beim Portionieren lernen am Buffet und Lehrküchenveranstaltungen (in höheren Gewichtsbereichen und zur Entlassungsplanung) runden das esspsychotherapeutische Programm ab.

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Bei bulimischen Patientinnen steht in den meisten Fällen nicht die Gewichtszunahme im Vordergrund. Sie müssen vielmehr lernen ihr Gewicht zu halten oder mit gesunden Mitteln abzunehmen und gleichzeitig wieder angemessen und regelmäßig zu essen. Wir setzen auch hier die Essplan gestützte Ernährung ein, die den individuellen Bedürfnissen angepasst werden kann mit einem Hauptaugenmerk im Vermeiden von Heißhungererleben, welches wiederum Essanfälle auslösen kann. In diesem Prozess setzen wir uns mit den Betroffenen über ihr anlagebedingtes, individuelles Normalgewicht auseinander, das höher liegen kann als das Wunschgewicht. Dies bezieht die Auseinandersetzung mit kleinlich gesetzten, unphysiologischen Gewichtsgrenzen ein.

Unsere Patientinnen / Patienten lernen, körperliche Folgen bulimischen Verhaltens, wie z.T. erhebliche Gewichtsschwankungen, auch vorübergehende Gewichtszunahmen in den Zusammenhang mit Störungen des Hormon-, Elektrolyt- und Wasserhaushalts zu bringen und diese damit als Teil der Essstörung zu verstehen und nicht weiter mit ihr gegen zu regulieren. Auch die angemessene Zahnhygiene nach einem Rückfall in das Erbrechen (nur Mund ausspülen, nicht Zähne putzen, um nicht Zahnschmelz zu zerstören) ist eine notwendige Information für die Betroffenen, die zu engmaschigeren und regelmäßigen Zahnarztbesuchen angehalten werden sollten, wobei dies nicht bedeutet, dass das komplette und anhaltende Aufgeben der bulimischen Symptomatik im Vordergrund steht.

Für die Teilnahme am sporttherapeutischen Programm ist das Erreichen des Normalgewichtsbereichs (mindestens BMI 18,5, ein normaler Kaliumspiegel und ein sogenannter Gehtest zur Belastungserprobung) Voraussetzung. Es geht dabei um die Auseinandersetzung mit einem krankem Bewegungsdrang im Gegensatz zu einer gesunden, leistungssteigernden und körperlich fit machenden Bewegung/Sporttreiben. In niedrigeren Gewichtsbereichen ist die Teilnahme an körperbildtherapeutischen und – angepasst an die wöchentliche Gewichtszunahme – bewegungstherapeutischen Angeboten möglich, was aber von der ausreichenden wöchentlichen Zunahme abhängig ist; Patientinnen/Patienten im BMI-Bereich < 12 werden im Rollstuhl gefahren, um ihnen die Teilnahme an den Therapien im Sitzen zu ermöglichen; das Gefahren werden im Rollstuhl schützt sie auch vor Verletzungen und spart Energie. Bettruhe mit der dadurch immer begleitenden sozialenr Isolation wird so bei uns vermieden.

Zum Erreichen einer Gewichtszunahme ist eine Bewegungsreduktion notwendig, um den Kalorienverbrauch möglichst gering zu halten und so auch die notwendige tägliche Menge an Essen. Der Wiederernährungsprozess wird so leichter gemacht. Gleichzeitig geht es aber auch darum, dass die Patientinnen/Patienten sich ohne körperliche Aktivität aushalten lernen bzw. diese nicht ausschließlich oder vorwiegend einsetzen, um unangenehme Gefühle zu regulieren, Kalorien zu verbrennen oder Zwängen nachzugehen. Wir wollen die neurotische und im Falle exzessiven Bewegungsdranges auch gefährliche Schuldverstrickung auflösen und den Glauben, sich Essen erst verdienen zu müssen, abändern.

Der PSYCHOTHERAPIEPROZESS findet vorzugsweise in Gruppen statt, die sich aus in etwa gleichaltrigen essgestörten Mitpatientinnen/seltener Patienten  zusammensetzen. Damit kann einem gravierenden Symptom der Essstörungserkrankung, dem sozialen Rückzug bis hin zur sozialen Isolierung, von Anfang an wirksam begegnet werden. Durch die Gruppenarbeit wird zusätzlich ein therapeutisch geführtes Unterstützungssystem innerhalb der verstehenden und verständnisvollen Mitpatientinnen/Mitpatienten auch über die speziellen Therapiezeiten hinaus aufgebaut und der soziale Rückhalt untereinander gefördert, was auch für die altersentsprechende gesunde Ablösung von den Eltern hilfreich bzw. sogar eine Voraussetzung dazu ist. Die Therapiegruppe ist das Zentrum der sozialen Verankerung innerhalb der Klinik und gleichzeitig der wichtigste Ort der Problem Auseinandersetzung und damit zur Überwindung des essgestörten Verhaltens. Die vollständige und anhaltende Überwindung des essgestörten Verhaltens, auch in Konfliktsituationen, ist Ziel der stationären Therapie.

Einzelpsychotherapien begleiten den im Vordergrund stehenden Gruppenpsychotherapieprozess, dies vor allem auch in Krisensituationen oder für spezielle Problematiken und der Auseinandersetzung mit Traumatisierungen, wofür wir noch eine begleitende spezielle Traumatherapie (nach der IRRT-Methode) anbieten (diese beinhaltet sowohl stabilisierende als auch konfrontative Vorgehensweisen und Innere Kind Arbeit). Dabei profitieren Patientinnen und Patienten mit Traumafolgestörungen besonders auch von der konsequenten Aufrechterhaltung der (Wieder)ernährung  in den Zeiten der intensiven Problem Auseinandersetzung.

Spezifisch wird der Psychotherapieprozess durch das zentrale Anliegen des gemeinsamen Begreifenlernens dessen, wofür die Essstörung steht und was folglich der Überwindung im Wege steht. In diesen Prozess werden auch die wichtigen Angehörigen miteinbezogen in familien- basierten Interventionen (Eltern-, Familien-, Paargespräche) als auch innerhalb unserer Eltern-Kind-Therapie-Wochen. Es findet zudem eine Auseinandersetzung um die weitere poststationäre Lebens- und Perspektive Planung der Betroffenen statt.

Alle Therapiesträngewerden ineinander greifend und ineinander übergehend eingesetzt und beinhalten im weiteren die Kunst- und Körperbildtherapie (zusammen mit der Bezugsgruppe), die Entspannungstherapie, das Skillstraining und Einzelcoachingeinheiten, die angeleitete Sporttherapie (inklusive der Möglichkeit zum Gerätetraining) und den Einbezug unserer Sozialarbeiterin. Diese begleitet von Beginn an die Therapie und hilft bei der Organisation der poststationären Nachsorge im Sinne eines Langzeittherapieplans. So lässt sich die hohe Rückfallgefährdung und damit Chronifizierung effektiver eingrenzen.

Ein besonderes Highlight sind unsere jährlichen Samstagsbrunchveranstaltungen (Informationsveranstaltungen, Ehemaligentreffen und „Tag der offenen Tür“)  immer Ende Mai.

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